Für das Tischgespräch zur Digitalisierung hat sich TUM-Präsident Thomas F. Hofmann mit vier Innovatorinnen und Impulsgeberinnen ausgetauscht, die sich tagtäglich den Herausforderungen der digitalen Welt stellen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie in ihren jeweiligen Branchen zu den Vorreiterinnen in Sachen Digitalisierung gehören und sich nicht davor scheuen, unbequeme Wege zu gehen, um ihre Branche besser zu machen. Miteinander haben Sie diskutiert, was sie persönlich an digitaler Technologie begeistert, warum jeder von uns Digitalisierung aktiv mitgestalten sollte und inwiefern die Coronakrise speziell für Deutschland als Weckruf gelten kann.
Herzlich willkommen in München, Frau Dr. Castiglioni. Wie schön, dass Sie es einrichten konnten.
Dr. Elisabetta Castiglioni: Sehr gerne. Wir wollen ja heute ein wichtiges Thema diskutieren. Digitalisierung geht uns alle an, wenn auch vielleicht auf unterschiedliche Weise.
Dr. Pamela Herget-Wehlitz, langjährige Chief Information Officer des deutschen Triebwerksherstellers MTU, und Bauunternehmerin Laura Lammel, Geschäftsführerin des gleichnamigen Familienunternehmens und Vizepräsidentin des Landesverbands Bayerischer Bauinnungen, stoßen gleichzeitig zur Gruppe.
Laura Lammel: Ist das schön, mal wieder an der TUM zu sein. Ist ja schon ein bisschen her, dass ich studiert habe (lacht). An der Hochschule München bin ich öfter, wenn ich zum Beispiel Vorträge zum Thema Digitalisierung im Bauwesen halte.
Dr. Pamela Herget-Wehlitz: Ich habe gelesen, das ist ein schwieriges Feld: digitale Technologie in der Baubranche.
Laura Lammel: Um ehrlich zu sein, bin ich manchmal neidisch, auf Unternehmen wie MTU mit einer „Standing Production“. Wir stehen mit jedem Auftrag vor einer neuen Situation: Jedes Bauwerk ist anders, jede Baustelle ist anders. Wir finden gute Insellösungen, aber es gelingt kaum wirklich den Gesamtprozess so zu optimieren, dass wir nur eine digitale Lösung für einen großen Teil der Arbeit nutzen können.
Präsident Thomas F. Hofmann betritt den Raum und begrüßt die anwesenden Damen herzlich.
Prof. Dr. Thomas F. Hofmann: Wie schön, Sie heute alle hier zu haben an der TUM und dass Sie sich Zeit nehmen für das Gespräch. Ich weiß, dass jede von Ihnen einen vollen Kalender hat – ich selbst eingeschlossen (lacht). Daher sind wir umso dankbarer.
Herr Präsident, wir haben gerade darüber gesprochen, vor welche großen Herausforderungen die Digitalisierung die Baubranche stellt.
Thomas F. Hofmann: Das haben wir tatsächlich auch hier an der Universität erlebt. An der Ingenieurfakultät Bau Geo Umwelt hatten wir vor ungefähr fünf bis zehn Jahren einen massiven Rückgang an Studierenden. Daraufhin haben wir die Studiengänge modernisiert mit Themen wie digitalem Bauen und anderen Schwerpunkten. Die Folge ist, dass die Studierendenzahlen jetzt wieder nach oben schießen. Nach der Informatik, der Mathematik und den Wirtschaftswissenschaften ist das die Fakultät, deren Studierendenzahl am schnellsten wächst. So bekommt man übrigens die besten Talente an die Universität, in dem man relevante Inhalte auf der Höhe der Zeit anbietet. Schließlich ist das unser Auftrag als Universität: Expertinnen und Experten für die Zukunft auszubilden.
Laura Lammel: Das ist auf jeden Fall sehr wichtig, allerdings ist meine Erfahrung, dass die Praxis einem oft einen Strich durch die Rechnung macht. Ich hatte das Glück, dass ich die New Economy und den riesigen Hype in Stanford erleben durfte. Damals habe ich verstanden, was Digitalisierung bedeutet und wie sie damals in den USA eingesetzt wurde. Mit diesen Ideen bin ich nach Deutschland zurückgekommen. Leider war hier seit Ende der neunziger Jahre Baukrise, wir mussten Mitarbeiter entlassen und alles, was ich digital noch anstoßen konnte, war, von MS Dos auf Microsoft umzustellen. Als ich 2012 mit der Verbandsarbeit angefangen habe und dort das Thema Digitalisierung diskutiert wurde, habe ich den Finger gehoben und gesagt: „Ich verstehe etwas davon.“
Wie sind Sie bei der Umsetzung weiter vorgegangen?
Laura Lammel: Ich höre gut zu, was mir Experten anderer Branchen oder aus Start-ups erzählen, adaptiere Projekte und Tools für die Bauwirtschaft und versuche diese dann stringent umzusetzen. Zugleich berate ich mittelständische Unternehmen auf ihrem Weg ins digitale Zeitalter. Doch noch heute ist es so, dass es viele Firmen in der Baubranche gibt, die keine Webseite oder E-Mail-Adresse haben. Hinzukommt, dass Bauarbeiter, oft nicht ausgebildet sind, um digitale Tools zu nutzen. Und umgekehrt schicken manche Unternehmer sich die Baupläne nur noch per WhatsApp zu und wundern sich dann, dass lauter Fehler drin sind.
Frau Dr. Herget-Wehlitz, Sie sind 1985 direkt nach Ihrem Studium als Ingenieurin in der Triebwerksindustrie eingestiegen. Welche Rolle hat Digitalisierung damals bei Ihnen gespielt?
Pamela Herget-Wehlitz: In der Triebwerksindustrie war Digitalisierung tatsächlich schon sehr früh ein Thema. Als junge Ingenieurin habe ich im Bereich Aerodynamik angefangen, wo viel programmiert werden musste. Wir waren eine große Abteilung, die die Rechenverfahren selber entwickelt hat, weil es so etwas am Markt noch gar nicht gab. Wir hatten die ersten Supercomputer in der Firma – das war richtig toll und schick. Aber natürlich keine PCs und keine Textprogramme oder ähnliches. Das kam erst Ende der achtziger Jahre. Es war viel „learning on the job“: Wir haben neue Produkte entwickelt und dafür brauchte man die neuen, digitalen Tools, die haben wir dann nachgezogen. Das war immer ein Wechselspiel. Digitalisierung ist kein Projekt mit Anfang und Ende, es ist ein fortwährender Prozess.
Wie meinen Sie das?
Pamela Herget-Wehlitz: Dadurch, dass sich die Technologien beständig weiterentwickeln, muss man immer wieder die eigene Herangehensweise und den Einsatz der Tools hinterfragen. So hat das Thema ja beispielsweise in den neunziger Jahren richtig Fahrt aufgenommen, als das Internet und die E-Mails dazukamen. Dadurch wurden Programme für die Zusammenarbeit wichtiger. Zweimal in meinem Berufsleben habe ich ein Produktdatenmanagement-System eingeführt, wodurch man mit ziemlich vielen Bereichen des Unternehmens gleichzeitig zu tun hat und merkt, wie vernetzt die Dinge sind. Da muss man sich wirklich gut überlegen, was man tut, weil man mit so etwas die Firma relativ schnell aufs Kreuz legen kann. Fehlgeleitete Digitalisierung kann recht gefährlich sein.
Elisabetta Castiglioni: Die Entwicklung der digitalen Technologien in den letzten zwanzig Jahren war eine Herausforderung für viele Branchen und Unternehmen und ich denke, dass immer noch viele einen großen Respekt davor haben. Eine erfolgreiche Digitalisierung braucht Strategie, Belastbarkeit und Mut. Sie zwingt uns dazu, uns auf das zu konzentrieren, was relevant und wichtig ist, auch wenn das bedeutet, etwas zu tun, das weit außerhalb unserer Komfortzone liegt.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Elisabetta Castiglioni: Bereits in den 2000er Jahren hatte ich die Gelegenheit, mich in der Digitalisierung der Medienindustrie einzubringen. Einer unserer größten Kunden war die BBC, ein Flagship-Unternehmen im traditionellen Medienbereich. Die digitale Transformation der BBC war ein Leuchtturmprojekt, eines der ersten dieser Art weltweit. Ich weiß noch, wie mir bewusst wurde, dass der Medienbereich – als eine der ersten Branchen – ihre Geschäftsprozesse überdenken muss. Die e herkömmliche Art, Geld zu verdienen, funktionierte nicht mehr. Diese erste Welle der digitalen Transformation zu gestalten und zu begleiten, war eine große und spannende Herausforderung.
Wie sind die Unternehmen damit umgegangen?
Elisabetta Castiglioni: Jede große Veränderung tut kurzfristig weh. Um langfristig zu überleben und sich als Unternehmen weiter zu entwickeln, lohnt es sich aber, notwendige Einschnitte vorzunehmen. Es ist besser, sich mutig Herausforderungen der Zeit zu stellen, um Veränderungen rechtzeitig zu erkennen und aktiv, strategisch einleiten zu können. Wer zu spät auf den Zug aufspringt, kann im Zweifel nicht mehr selber steuern, sondern wird gesteuert. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass IT heute kein reiner Dienstleister, sondern eine Art Katalysator und Teil der Unternehmens-DNA geworden ist. Das gilt für alle Branchen.
Prof. Dr. Thomas F. Hofmann
Frau Sievert, als jüngste in dieser Runde gehören Sie ja zu den so genannten Digital Natives. Läuft in Ihrem Start-up alles voll digitalisiert ab?
Maria Sievert: Wir haben in der Tat mit einem sehr jungen Team gestartet. Dadurch ist die Offenheit für digitale Produkte enorm hoch. Da passiert dann eher das Gegenteil, dass jeder einen neuen Vorschlag hat, welches digitale Tool man noch einsetzen könnte. Wir müssen dann immer genau abwägen, ob das Tool überhaupt zu dem Job passt, den man machen möchte. Wir dürfen uns nicht verzetteln.
Pamela Herget-Wehlitz: Das finde ich wichtig. Man muss die Dinge vom Problem und den Prozessen her denken und nicht von dem Programm oder digitalen Tool, das zu Verfügung steht. Da versteigen sich viele und fangen vom falschen Ende her an. Eine digitale Lösung muss wirklich passend sein für das Problem, anders erzeugt es einfach nur mehr Komplexität. Und wenn man es richtigmacht, dann kann man auch die Leute mitnehmen, die vielleicht keine Digital Natives sind.
Maria Sievert: Wir vereinheitlichen gerade das Projektmanagementtool in allen Teams. Da braucht es erstmal viel Disziplin von allen Beteiligten, bis man an dem Punkt ist, an dem sich dann tatsächlich der Benefit des Systems zeigt. Manchmal warten wir aber mit der Einführung von neuen Tools auch bewusst länger, bis das Team fast schon selbst nach Hilfe schreit und sagt, dass es mit Post-Its und Kugelschreibern nicht mehr weiterkommt (lacht). Dann sagen wir: „Da hätten wir was“. Damit haben wir das Team dann gleich etwas schneller auf unserer Seite.
Laura Lammel: Digitalisierung muss auch gut kommuniziert werden. Ohne die direkte Vermittlung von Mensch zu Mensch wird uns die Veränderung der Prozesse und Verkürzung der Abläufe durch digitalisierte Strukturen und künstliche Intelligenz nicht gelingen. Wir brauchen hierfür Zeit, Empathie, Courage und Überzeugungskraft.
Herr Präsident, welche Rolle spielt denn die Informatik bei der Ausbildung der Studierenden?
Thomas F. Hofmann: Die Informatik gehört als Grundfach eigentlich in jeden Studiengang. Der klassische naturwissenschaftliche Basiskanon aus Mathematik, Physik und Chemie muss durch die Informatik als vierte Säule ergänzt werden. Auch ein Mediziner braucht davon ein Grundverständnis: Er muss kein Software-Entwickler sein, das nicht, aber er muss so ausgebildet sein, dass er sprechfähig ist und sich mit einem Informatiker austauschen kann. Es geht um grundlegende „Digital Skills“, die künftig jeder braucht, um beruflich erfolgreich zu bleiben.
Elisabetta Castiglioni: Viele unserer Kunden kommen aus dem Mittelstand und fragen mich regelmäßig, ob sie jetzt einen Data Scientist einstellen müssen. Und wenn ja, wo sie diesen überhaupt herbekommen (lacht). Wir versuchen, unsere Kunden zu beruhigen und sagen ihnen, dass sie sich unbesorgt auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren sollen. Grundverständnis und Mut, die digitale Transformation anzupacken muss natürlich gegeben sein. Alles weitere kann der richtige Partner begleitend machen.
Wie vermittelt man das den Arbeiternehmern, deren Studium schon länger her ist und die keine Digital Natives sind?
Thomas F. Hofmann: Da sehen wir uns als Universität in der Pflicht, Weiterbildung für Alumni und Führungskräfte anzubieten. Wir haben vor kurzem das TUM Institute for Life Long Learning gegründet, das Professional und Executive Education anbietet. Die Weiterbildung erfolgt durch eine geschickte Kombination von Präsenz- und digitalen Angeboten, so dass die Mitarbeiter nicht zu lange im Unternehmen fehlen und die Weiterbildung passend in ihren Arbeitsalltag einbinden können.
Würden Sie denn sagen, Deutschland hat die Digitalisierung verschlafen?
Thomas F. Hofmann: So weit würde ich nicht gehen. Wir waren schon innovativ, haben aber nicht ausreichend skaliert und interessante Anwendungsbereiche erschlossen. Wenn wir uns die Bauindustriebranche ansehen, lässt sich das gut zeigen. Hier gibt es ja noch keine wirklich gelebte Digitalisierung, wie wir schon gehört haben. Gleichzeitig war das Bauen früher ein Sektor, wo wir Deutschen richtig gepunktet haben. Mittlerweile haben wir deutlich an Vorsprung verloren. Wir haben uns zu lange darauf ausgeruht, dass wir in den produzierenden Sektoren traditionell stark waren und haben zu wenig Mut für ein Umdenken und Umlenken gezeigt.
Was meinen Sie damit?
Thomas F. Hofmann: Ich kann mich noch an eine Reportage von vor vier oder fünf Jahren erinnern: Unser heutiger Wirtschaftsminister hat damals in Stanford den Google-Chef getroffen. Der Minister gab damit an, dass wir in Deutschland die besten Autos bauen. Und der Google-Chef entgegnete trocken: „Ja, das stimmt. Aber dafür kaufen wir eure Ingenieure ein.“ Am Ende des Tages ist es glücklicherweise nicht ganz so weit gekommen. Aber wer hätte damals gedacht, dass Tesla einmal in Deutschland so ein großes Werk hinstellt wie jetzt in Brandenburg. Die Welt bewegt sich wahnsinnig schnell und wartet nicht auf Deutschland. Da müssen wir dranbleiben und das werden wir auch schaffen. Wir haben immer noch wahnsinnig viel Know-how und sehr gut ausgebildete Leute im Land. Die müssen wir dazu bringen, hier zu bleiben.
Maria Sievert: Wir haben festgestellt, dass die Motivation für eine Sache für die jungen Fachkräfte ein ganz entscheidender Faktor ist, sich für oder gegen einen Beruf, ein Unternehmen oder ein Land zu entscheiden. In unserem Start-up arbeiten ja viele Informatiker und Ingenieure von der TUM. Die fanden es spannend, eben nicht zu einem Automobilhersteller zu gehen, sondern ihr Wissen in der Medizintechnik und für einen guten Zweck einzusetzen. Unsere Aufgabe ist es, Krebsdiagnostik zu verbessern. Damit kann sich jeder identifizieren, weil jeder im Freundeskreis oder in der Familie jemanden kennt, der von der Krankheit betroffen ist.
Thomas F. Hofmann: Das merken wir auch bei den Studierenden. Die sind auf der Suche nach einer spannenden und zugleich wichtigen Aufgabe. Ich wollte damals Chemie studieren, weil ich mich für die Laborarbeit interessiert habe – das hat mich begeistert. Heute hört man so etwas aber von keinem Studierenden mehr. Die sagen: „Ich möchte etwas erreichen, ich möchte etwas bewegen, ich möchte eine Bestimmung haben.“ Das ist, was sie motiviert. Aber an diesem Punkt muss man die Studierenden abholen und ihnen gute, innovative Programme anbieten.
Pamela Herget-Wehlitz: Aus der Sicht des großen Unternehmens gesprochen, muss ich sagen, dass es natürlich nicht immer leicht ist, alle Mitarbeiter auf dem Weg der Digitalisierung mitzunehmen. Wir haben das so gemacht, dass wir vor zwei Jahren eine Anzahl an jungen, digital affinen Leuten für die relevanten Fachbereiche rekrutiert haben: mit einer guten, digitalen Ausbildung und drei bis fünf Jahren Berufserfahrung. Die haben wir in die Fachbereiche platziert, mit der Aufgabe, sich dort die Prozesse anzuschauen, vorauszudenken und die Menschen vor Ort mitzunehmen. Damit auch die, die gerade nicht so mitkommen, eine Möglichkeit haben, wieder einzusteigen. Das Modell war extrem erfolgreich: Die Kombination aus erfahrenen Fachkräften und den jungen, motivierten Leuten, die immer ein bisschen mehr wollten, war echt eine tolle Sache.
Thomas F. Hofmann: Das ist ja die Schwierigkeit, wenn Sie eine Transformation haben, egal welche, ob das jetzt eine digitale ist oder irgendeine andere. Zunächst müssen Sie ausreichend Motivation übertragen, sonst passiert nichts. Ein stagnierendes System bewegt sich nicht von selbst. Manchmal ist die größte Gefahr, zu glauben, dass es immer so weiter geht wie bisher.
Laura Lammel: Das haben wir jetzt mit Corona gesehen.
Thomas F. Hofmann: Wenn wir die gesundheitliche Seite einmal ausklammern, ist die Corona-Krise ein echter Weckruf gewesen, der symptomatisch Nachholbedarf auch an der TUM sichtbar gemacht hat. Natürlich hatten wir schon zuvor digitale Inhalte in der Lehre und heute sind wir froh darüber. Trotzdem hat es durch die Coronakrise an der TUM jetzt einen Quantensprung gegeben. Wir hatten vier Wochen Zeit, um das gesamte Sommersemester 2020 auf digitale Inhalte umzustellen für unsere 42.000 Studierenden, die ja das Recht haben, mit ihrem Studium weiterzumachen und die wir jetzt – mehr denn je – als Fachkräfte da draußen brauchen. Das war eine enorme Community-Leistung: Jede Dozentin, jeder Dozent, alle wissenschaftlichen Mitarbeiter, die Verwaltung und die Studierenden selbst haben mitangepackt. Wir haben 500 studentische E-Scouts rekrutiert, die den Dozentinnen und Dozenten geholfen haben, Filme zu schneiden und die Digitalisierung der Formate wirklich umzusetzen. Die TUM ist dafür bekannt, dass wir relativ schnell nach vorne schreiten, aber so eine flächendeckende, skalierte Umstellung hätten wir ohne Krise in den nächsten drei Jahren nicht umgesetzt bekommen. Das wird uns in Zukunft nutzen.
Welche Zukunftswünsche und Visionen haben Sie alle denn – wie sie als Expertinnen und Experten hier sitzen – für die Weiterentwicklung der Digitalisierung?
Maria Sievert: Als Unternehmerinnen haben wir ja alle irgendwie diese Neugier und diesen Hunger, die Dinge zu verbessern. Für mich ist Digitalisierung kein Selbstzweck – weil man das halt so macht – sondern weil ich damit etwas erreichen will. Ein Werkzeug, um Dinge besser zu machen. Für uns ganz konkret: Eine Chance, in Zukunft falsche Krebsdiagnosen vermeiden zu können.
Laura Lammel: Es ist wichtig, bei der Digitalisierung die ganze Gesellschaft mitzunehmen. Menschen jeden Alters, mit unterschiedlicher Ausbildung und jeder Nationalität. Die digitalen Technologien sollen für alle nutzbar sein und gleichzeitig sollte auch klar sein, dass es immer noch schön ist, ein Buch lesen zu können.
Pamela Herget-Wehlitz: Wie jede Technologie kann man Digitalisierung ins Positive wie ins Negative wenden. Bestimmte Dinge müssen wir in den Griff bekommen, wie beispielsweise Cybersecurity oder diese massive Abhängigkeit von ein paar wenigen Softwareherstellern. Hier wünsche ich mir schon, dass die Politik hilft. Ich freue mich, wenn die Gesellschaft es insgesamt schafft, dass wir die helle Seite der Digitalisierung nutzen und die negativen Aspekte im Zaum halten können.
Elisabetta Castiglioni: Mehr Initiativen, die das Thema Digitalisierung in und für Europa stark machen! GAIA-X, die europäische Cloud, in der Daten nach europäischen Standards der Datensicherheit gespeichert und verarbeitet werden, ist so eine Initiative. Wir müssen uns schrittweise aus der Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten und China befreien.
Thomas F. Hofmann: Ein ganz, ganz wichtiges Thema: Die Souveränität Europas, was die digitalen Technologien betrifft. Dafür brauchen wir einen gesamteuropäischen Aufschlag. Wir haben jetzt gerade mit einer Projektgruppe ein Impulspapier zu einer so genannten „European Public Sphere“ entworfen, einem digitalen Ökosystem, das europäischen Werten wie Privatsphäre, Offenheit und Vielfalt folgt. Darüber hinaus wünsche ich mir einen stärkeren Schulterschluss zwischen Wissenschaft und Wirtschaft – gerade beim Thema Digitalisierung. Wir werden als Universität manchmal kritisiert, wenn wir mit Unternehmen kooperieren. Dann heißt es: Die Wissenschaft würde sich verkaufen. Das ist doch wirklich Unsinn. Wir lassen uns von niemandem vorschreiben, auf welchen Gebieten wir forschen. Wir haben unsere Standards. Aber wenn ich mich wie heute mit Expertinnen wie Ihnen austausche, dann wird doch relativ klar, wie essentiell das enge Zusammenwirken ist, sowohl was die Ausbildung betrifft, als auch die Forschung mit der wir Technologie-Innovationen schaffen. Warum ist beispielsweise Stanford so erfolgreich? Weil im Silicon-Valley ein Ökosystem entstanden ist, wo die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Start-ups, die etablierten Global Players sich alle gegenseitig befruchten. Die tauschen Ideen aus, da entsteht Neues und wird direkt umgesetzt. Diese Innovationsspirale, die wünsche ich mir auch bei uns in Deutschland.
Ich bedanke mich sehr herzlich für das interessante Gespräch.
Die angeregte Diskussion hat einiges in Bewegung gebracht. Nach dem Gespräch bleiben die Teilnehmerinnen noch beieinanderstehen, tauschen Visitenkarten, verabreden weitere Abstimmungen und Kooperationen in naher Zukunft. Alle sind sich einig, dass sie die Weiterentwicklung der digitalen Technologien sowie eine digitale Souveränität im europäischen Kontext weiter unterstützen wollen. Dafür ist es noch nicht zu spät – im Gegenteil: Es fängt gerade erst richtig an.