Nobelpreisträger Erwin Neher

„Ich dachte, ich hätte meine Chance vertan“

Bild: Irene Böttcher-Gajewski/Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie

Schon von Kindesbeinen an war Erwin Neher fasziniert von Biologie und Naturphänomenen. Sein Elternhaus hatte einen großen, Garten, in dem er stundenlang Pflanzen und Tiere beobachtete. Nach dem Abitur studierte er Physik an der TUM: Die sehr problemorientiere Kursarbeit dort war für seine spätere Forscherkarriere eine große Hilfe.

Während seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Psychiatrie lernte er den Mediziner Bert Sakmann kennen. Zusammen hatten sie viele lebhafte Diskussionen, wurden Freunde und trieben gemeinsam die Forschung zum Nachweis einzelner Ionenkanäle in Zellmembranen voran, für die sie 1991 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Seit 1983 ist Erwin Neher Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen und Leiter der Abteilung Membranbiophysik.

Im Interview erzählt er, warum er schon Biophysik studieren wollte, als es das Fach noch gar nicht gab, wie er 1968 die Studentenbewegung in den USA erlebte und welche Freiheiten ihm der Nobelpreis verschafft hat.

Herr Professor Neher, Sie wussten schon relativ früh in Ihrem Leben, dass Sie Physik studieren wollten. Woher kam diese Leidenschaft?

Ich bin in Buchloe aufgewachsen, einer kleinen Stadt in Bayern, 70 km westlich von München. Unser Familienhaus lag in einem großen, parkähnlichen Garten, in dem ich stundenlang alleine Pflanzen und Tiere beobachtete und in dem ich fast jeden Kiesel kannte. Gleichzeitig war ich an technischen Dingen sehr interessiert: Radios, Uhren – was mir unterkam, habe ich auseinandergenommen und versucht, wieder zusammenzusetzen. Später am Gymnasium hatten wir sehr gute Lehrer und nachmittags haben wir uns in Arbeitsgruppen zusammengesetzt und zum Beispiel eine Sonnenuhr gebaut und Teleskope ausprobiert. Das war alles sehr anregend.

Und dann standen Sie vor der Entscheidung, Biologie oder Physik zu studieren?

Genau. Eine Sache, die mich besonders interessiert hat, war der Nervenimpuls. Also eben die Tatsache, dass in unserem Körper elektrische Signale fließen. Darüber wollte ich mehr erfahren. Es war dann sehr bald mein Wunsch, in diese Richtung zu gehen und eine Forscher-Laufbahn in Neurobiologie beziehungsweise Biophysik zu ergreifen. Damals war allerdings die Biophysik noch kein Studienfach bei uns: Ich musste mich also zwischen Physik und Biologie entscheiden und habe dann mit Physik angefangen, hatte aber das klare Ziel, später in die Biophysik einzusteigen.

Sie sind dann an die TUM gegangen zum Studium?

Ja, im Herbst 1963. Wegen meines technischen Interesses lag das nahe. Im Gegensatz zu den typischen deutschen Universitäten hatte die TUM einen ziemlich engen Zeitplan mit einer Menge problemorientierter Kursarbeit, die die normalen Vorlesungen ergänzte. Eine solche Ausbildung war für viele Aspekte meiner späteren Forschungsarbeit eine große Hilfe.

Was kommt Ihnen als erstes in den Kopf, wenn Sie an Ihre Studienzeit denken?

Was mir gut in Erinnerung geblieben ist, ist der Lesesaal in der Bibliothek in der Arcisstraße. Ein großer Saal mit Arbeitslampen, die jeweils nur den eigenen Tisch beleuchteten. Ich habe das als eine sehr gute Arbeitsatmosphäre empfunden, um zu lesen und um Übungsaufgaben zu machen. Dort habe ich sehr viel Zeit verbracht. Generell war das damals in den sechziger Jahren allerdings eine sehr aufgewühlte Zeit.

Haben Sie denn noch Kontakt zu Studienkollegen von der TUM?

Wir waren eine Dreiergruppe, die sich in den ersten Semestern gefunden hat und wir haben sehr viel zusammengemacht. Wir haben auch im selben Studentenheim gewohnt. Einen, den Mathematiker Peter Deuflhard, habe ich in den letzten Jahren noch in Berlin besucht.

Im fünften Semester des Diplomstudiums sind Sie dann in die USA gegangen. Wie kam das?

Nach dem Vordiplom wurde mein Fulbright-Stipendium (eines der prestigeträchtigsten Stipendien weltweit; Anm. d. Red.) bewilligt, mit dem ich in die USA gehen konnte. Ich hatte die Hoffnung, hier im Bereich Biophysik forschen zu können. Das war tatsächlich der Fall. Vor meiner Abreise hatte ich mich mit Professor Edgar Lüscher ausgetauscht: Er kam aus den USA und war kurz zuvor an die TUM berufen worden. Er hat mir drei Universitäten empfohlen, die ich in meinem Antrag nennen sollte. Während meines Jahres an der Universität von Wisconsin in Madison war ich vollständig in ein biophysikalisches Labor integriert, das sich mit der Kleinwinkel-Röntgenstreuung befasst hat. Mein eigenes Projekt unter der Leitung von Professor Beeman war ein früher Versuch, Molekularstrahlen von Makromolekülen für die Massenspektrometrie herzustellen. In etwas mehr als einem Jahr habe ich dies zwar nicht geschafft, aber doch einen Master of Science erworben.

In den späten sechziger Jahren an einer Universität in den USA: Welche Eindrücke haben Sie von damals mitgenommen?

Gesellschaftlich war das für mich eine große neue Erfahrung. Mein USA-Bild war geprägt durch das amerikanische Militär, das ich aus den deutschen Nachkriegsjahren kannte. Die USA habe ich als ein sehr vielseitiges Land kennengelernt – sozial, aber auch landschaftlich. Es war damals der Start der Hippie-Revolution, da war also viel los auf dem Campus (lacht).

Bild: Irene Böttcher-Gajewski/Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie

Nach Ihrem Master war für Sie klar, dass Sie promovieren wollten?

Es gab in unserer Familie keine akademische Vorgeschichte, aber ich wollte ja Forscher werden und dann promoviert man natürlich. Sicher gab es Momente, wo ich mir nicht sicher war, ob das mit der Forscherkarriere und der Promotion so klappt wie geplant – Momente, in denen ich mich nach Möglichkeiten in der Industrie umgesehen habe. Ich hatte sogar einmal bei Siemens ein Vorstellungsgespräch, aber irgendwie hat dann doch das Interesse an den wissenschaftlichen Fragen gesiegt. Zur Promotion bin ich wieder an die TUM zurückgegangen.

Haben Sie jemals überlegt, für die Promotion in den USA zu bleiben?

Das war in der Tat eine kritische Entscheidung. Ich hatte das Angebot bekommen, in dem Labor, wo ich die Masterarbeit gemacht habe, auf einer Doktorantenstelle weiterzuarbeiten. Aber ich wollte nicht in den USA bleiben. Wenn ich dort den Doktor gemacht hätte, wäre das sehr stark in Richtung einer Forscherkarriere in den USA gegangen. Da ich aber sehr verwachsen bin mit meiner Heimat, wollte ich einfach wieder zurück.

Die Suche nach einem Promotionsprojekt sind Sie sehr strategisch angegangen.

Nach meiner Rückkehr habe ich mich ganz bewusst nach einem Doktorandenprojekt in Biophysik umgesehen, das vorzugsweise mit der Erregung von Nerven zu tun haben sollte. Glücklicherweise führte mich meine Suche zum Max-Planck-Institut für Psychiatrie, wo Hans-Dieter Lux synaptische Mechanismen in Motoneuronen und Ionenströme in Schneckenneuronen untersuchte. Wir haben uns auf ein Projekt über Spannungsklemme an Schneckenneuronen geeinigt. Professor Heinz Gerischer vom Institut für Elektrochemie an der TUM war bereit von Seiten der Universitäten ein solches Projekt als Leistung für eine Promotion zu erwägen. Er vermittelte mir in seinen Vorlesungen auch die nötigen Grundlagen in Elektrochemie.

Hat es Sie viel Überzeugungskraft gekostet, Professor Gerischer von Ihrem Promotionsthema zu überzeugen? Es war doch ein ganz neues Feld, das Sie da bestellen wollten.

Sicher lag das Thema nicht ganz auf der Linie des Instituts von Professor Gerischer. Als ich in der Elektrochemie vorsprach, war er aber gerade auf Sabbatical in den USA und ich habe mit seinem Oberassistenten gesprochen: Das war Gerhard Ludwig Ertl, der spätere Nobelpreisträger für Chemie. Er fand das Thema gut und schrieb dann einen Brief an Professor Gerischer – E-Mail gab es ja damals noch nicht – und der zeigte sich glücklicherweise auch einverstanden.

Während Ihrer Jahre im Labor von Hans-Dieter Lux haben Sie den Mediziner Bert Sakmann kennengelernt, der dort auch promovierte.

Bert, nach seinem Studium der Medizin, war sehr interessiert an den grundlegenden neuronalen Mechanismen, die wir im Labor von Dieter Lux studierten. Wir hatten viele lebhafte Diskussionen und wurden Freunde. Dabei ging es oft um die Frage, ob es möglich wäre, die äußerst kleinen Stromänderungen zu messen, die man nach gängigen Vorstellungen beim Öffnen und Schließen von damals noch hypothetischen Membranporen erwarten konnte. Aufgrund seiner Interessen beschloss Bert, nach London zu gehen, um im Biophysiklabor von Sir Bernhard Katz zu arbeiten. Wir trafen uns 1973 wieder in Göttingen, wo ich mich einem Labor für physikalische Chemie angeschlossen hatte, um Erfahrungen mit der Messung kleinster Ströme an künstlichen Membranen zu sammeln. Bert brachte Erfahrungen über die neuromuskuläre Übertragung mit und es war nur wenig Diskussion erforderlich, um eine Zusammenarbeit zu vereinbaren, die auf die Messung von Einzelkanalströmen abzielte. 1976 konnten wir die ersten Messungen dieser Art veröffentlichten, während ich ein Jahr im Labor von Charles F. Stevens an der Yale University verbrachte. Nach meiner Rückkehr konnten wir dank der Unterstützung unsere Abteilungsleiter Hans Kuhn und Otto D. Creutzfeldt unabhängige „Young Investigator Laboratories“ einrichten. Dies war sehr hilfreich für eine enge Zusammenarbeit und es ermöglichte uns, eine Reihe hervorragender Postdoktoranden zu gewinnen. Gemeinsam haben wir die Technik perfektioniert und verschiedene Messkonfigurationen entwickelt.

Gab es denn einmal Momente, an denen Sie nicht so recht weiterwussten?

Wir hatten das große Glück, dass das, was wir uns vorgenommen hatten, im Großen und Ganzen funktionierte. Aber natürlich gab es Zeiten, wo wir festhingen. Momente, die auch frustrierend waren. Wir haben dann meistens erst einmal eine Pause eingelegt und versucht, auf andere Art und Weise diese Ströme zu studieren, die wir in sehr hoher Auflösung messen wollten. Das hat uns bei Stimmung gehalten, weil diese alternativen Messungen ganz gut klappten und veröffentlicht werden konnten. Allmählich wurden die Messungen besser und es kam das zum Vorschein, nach dem wir eigentlich suchten, nämlich kleine, schrittartige Änderungen der Membranströme. Da wussten wir, jetzt sind wir auf dem richtigen Weg.

Sie haben nie daran gedacht, aufzugeben?

Naja, das ist ja immer so beim Forschen. Man denkt sich etwas aus, hat eine bestimmte Erwartung an ein Experiment, aber oft tritt dann das entsprechende Ergebnis nicht ein. Das ist wahrscheinlich sogar öfter der Fall, als dass die eigenen Erwartungen erfüllt werden. Und dann ist man frustriert. Aber irgendwann hat man eine Idee, man könnte es ja von einer anderen Seite her nochmal angucken oder man könnte bestimmte Bedingungen im Experiment ändern oder was ganz Neues machen. Und diese Idee, dieses „so könnte es doch gehen“, beflügelt einen und man macht weiter.

1991 wurden Sie gemeinsam mit Bert Sakmann für Ihre Forschungen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. War das eine Überraschung für Sie?

Zu dem Zeitpunkt, als der Anruf kam, ja. Da habe ich überhaupt nicht daran gedacht. Wir wussten natürlich von Kollegen, dass wir nominiert worden waren, mehrere Jahre hintereinander. Ein Jahr vor dem Preis, 1990, das war ganz auffällig, bin ich vier oder fünf Mal nach Schweden zu Vorträgen eingeladen worden. Die Diskussionen nach den Vorträgen ähnelten schon manchmal einer Art Verhör (lacht). Aber als dann im Oktober 1990 der Nobelpreis nicht kam, hatte ich mit der Sache abgeschlossen. Ich dachte: „Jetzt hast du deine Chance vertan.“

Würden Sie im Rückblick sagen, der Nobelpreis hat viel für Sie geändert?

Im ersten Jahr nach dem Nobelpreis wird man natürlich mit allen möglichen Forderungen konfrontiert. Man kann sich gar nicht vorstellen, was die Leute meinen, was ein Nobelpreisträger alles kann und wofür man ihn einspannen kann (lacht). Man muss lernen, damit umzugehen. Nach einiger Zeit hatte ich es geschafft, relativ restriktiv zu sein, damit ich mit meiner eigenen Forschung weitermachen konnte.

Und wie ist es heute?

Wenn man ins Emeritierungsalter kommt, dann kommt die Phase, wo einem der Nobelpreis wirklich hilft. Das Beste am Nobelpreis ist nämlich, dass man mehr oder weniger die Garantie hat, so lange arbeiten zu können, wie man will. Und deswegen sitze ich heute noch hier in meinem Büro in Göttingen mit 76 Jahren. Sonst wäre ich wahrscheinlich schon längst zu Hause (lacht).

Zuletzt ein Blick in die Zukunft: Von welchem wissenschaftlichen Problem würden Sie sich wünschen, dass es bald gelöst wird?

Vom Standpunkt der Neurobiologie sind das natürlich die neurodegenerativen Krankheiten: Dagegen endlich ein Mittel zu finden, das wäre wunderbar. Neurobiologisch interessiert mich aber auch sehr die Forschung über Motivation und Befindlichkeit. Auf diesem Gebiet sind in letzter Zeit viele Fortschritte gemacht worden. Im Endeffekt – also das ist jetzt nicht mehr etwas, was ich noch aufgreifen kann – wenn wir verstehen, was uns motiviert, was uns antreibt, dann findet man vielleicht auch Mittel und Wege, um Depressionen zu vermeiden und das Befinden der Menschen insgesamt zu verbessern. Das wäre doch das Beste, was man erreichen könnte, dass Forschung zu einer echten Verbesserung im subjektiven Befinden der Menschen führt.

Prof. Dr. Erwin Neher

Diplom Physik 1967, Promotion 1970

Erwin Neher wuchs als Sohn einer Lehrerin und eines Prokuristen mit zwei Schwestern im bayerischen Buchloe auf. Ab 1963 studierte er an der damals noch Technischen Hochschule München Physik. Mit Hilfe eines Fulbright-Stipendiums ging er ab 1966 in die USA an die University of Wisconsin, wo er seinen Master machte. Nach seiner Rückkehr nach München promovierte er an der TUM und am Max-Planck-Institut für Psychiatrie, wo er den Mediziner Bert Sakmann kennenlernte. Ab 1976 hatten Erwin Neher und Bert Sakmann am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie Göttingen ein gemeinsames Labor, in dem sie zusammen mit wenigen Mitarbeitern kleine Arbeitsgruppen aufbauten.

Zwischen 1983 und 2011 war Erwin Neher wissenschaftlicher Direktor am selben Institut und Leiter der Abteilung für Membranbiophysik. 1991 wurde er gemeinsam mit Bert Sakmann mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet für ihre Entwicklung einer Methode zum direkten Nachweis von Strömen durch einzelne Ionenkanäle in Zellmembranen. Beide Wissenschaftler waren federführend an der Entwicklung dieser sog. Patch-Clamp-Technik beteiligt, die die Grundlage für ihre Entdeckungen bildete. Erwin Neher ist verheiratet und hat fünf Kinder.

Bild: Irene Böttcher-Gajewski/Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie